P. Halbeisen u.a. (Hrsg.): Wirtschaftsgeschichte der Schweiz

Cover
Titel
Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Halbeisen, Patrick; Müller, Margrit; Veyrassat, Béatrice
Erschienen
Basel 2012: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Daniel Speich Chassé, Historisches Seminar, Universität Luzern

Wer immer sich künftig für den jüngeren Wandel der wirtschaftlichen Verhältnisse in der Schweiz interessiert, muss auf die von Patrick Halbeisen, Margrit Müller und Béatrice Veyrassat edierte neue «Wirtschaftsgeschichte der Schweiz» zurückgreifen. Dieses Buch ist einmalig. Allein das Inhaltsverzeichnis umfasst acht Druckseiten. Es stellt einen grossen Gewinn für die Forschung dar und wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit Sicherheit als ein einschlägiges Standardwerk etablieren. Dies nur schon deshalb, weil eine so grosse Fülle von thematischen Aspekten angesprochen wird, dass zahllose Fragestellungen zur neueren Schweizer Geschichte durch die hier vorliegenden Forschungsergebnisse bestätigt, verfeinert, verändert oder durchkreuzt werden können. Alle Forschenden, die sich selber nicht der Wirtschaftsgeschichte zurechnen, können in dem Werk materielle Eckwerte des soziokulturellen Wandels finden, mit denen sich der Spielraum der Quelleninterpretation erfreulich einschränken lässt. Zugleich rückt das Buch die aktuellsten Ergebnisse der offiziellen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in einen historischen Zusammenhang und bietet so der makroökonomischen und der kliometrischen Forschung entscheidende Grundlagen. Ein ausführlicher Anhang, an dem auch Heiner Ritzmann mitgewirkt hat, erörtert die Mess- und Schätzungsmethoden.

Allerdings fällt auf, dass den umfangreichen Ausführungen keine konzise Definition des Hauptgegenstandes vorangestellt wird. Man stelle sich ein vergleichbares Kompendium vor, das nicht die Wirtschafts-, sondern die «Kulturgeschichte » der Schweiz umfasst: Dann hätte die Arbeit am Leitbegriff sicher mehr Platz eingenommen. Die genaue Lektüre der Kapitel zeigt keine einheitliche methodische Zugangsweise. Das ist erstaunlich, denn die Wirtschaftsgeschichte hat sich lange als eine Grenzdisziplin verstanden, die zu gleichen Teilen zur historischen Forschung und zur ökonomischen Theoriebildung beitragen wollte, und deshalb besonderen Wert auf theoriegeleitete Quellenarbeit legte. Offenbar scheint es weder möglich noch nötig gewesen zu sein, die Beitragenden auf einen forschungsleitenden Ansatz einzuschwören, und man muss annehmen, dass sie stillschweigend darin übereinkamen, zu wissen, was «Wirtschaft» sei. Es zeigt sich hier eine gewisse Schwäche der Schweizer wirtschaftshistorischen Forschung, die im Zuge des «cultural turn» akademisch an Terrain verloren hat. Umso erstaunlicher ist es, dass dieses Buch überhaupt entstehen konnte.

Der gemeinsame Nenner der Beiträge wird von Hans Jörg Siegenthaler im Vorwort zwar als die historische Analyse des «Prototyps» einer «modernen Wirt Zitierweise: schaftsgesellschaft» beschrieben (S. 15). Und die Herausgeber/innen präzisieren, man wolle den Wandel der Schweizer Wirtschaft am «übergreifenden weltwirtschaftlichen Trend» (S. 18), d.h. an anderen Wirtschaftsgesellschaften messen. Doch damit ist kein analytischer Standpunkt gewonnen, sondern nur gesagt, dass «Wirtschaft» etwas mit Staatlichkeit zu tun habe und im internationalen Rahmen vergleichend studiert werden könne. Entsprechend unverbindlich sind die in der Einführung präsentierten «zentralen Ergebnisse»: Im Vergleich zu anderen Ländern war das Gesamtvolumen der Wirtschaftsaktivität in der Schweiz gemessen an der hier lebenden Anzahl Menschen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg sehr hoch. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verlor sich dann diese internationale Sonderstellung bezüglich des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf der Bevölkerung allmählich, wobei die zwei Weltkriege, das nachfolgende europäische Wirtschaftswunder, die Krise der 1970er-Jahre und die Dynamisierung der europäischen Integration seit den 1980ern wesentliche Rahmenbedingungen darstellten. Ferner wird über das gesamte Jahrhundert hinweg die Abhängigkeit eines grossen Teils der Schweizer Wirtschaft von ausländischen Märkten und wirtschaftspolitischen Interventionen hervorgehoben. Und als wichtigste Motoren der stets vergleichbar gutlaufenden Schweizer Wirtschaftsmaschine werden die Arbeitsmigration und eine starke Innovationskultur benannt.

Die Stärke des Buches liegt sicher nicht in diesem Minimalergebnis, und auch nicht darin, eine Gesamtanalyse des erfolgreichen «Prototyps» vorzulegen, aus welcher die Wirtschaftspolitik Gewinn ziehen könnte. In der Summe liegt hier kein empirisch gestützter Beitrag zur makroökonomischen Theoriebildung vor. Das zeigt sich an der Gliederung der Kapitel in fünf Teile. Der erste Teil enthält neue quantitative Schätzungen des Konjunkturverlaufs der Schweizer Nationalökonomie im 20. Jahrhundert und reichert diese durch die Analyse des demographischen Wandels und der Bedeutung von Technologie und Innovation an. Der zweite Teil vereint unter dem Titel «Die Schweiz in der internationalen Arbeitsteilung » drei Beiträge, die sich der internationalen Verflechtung der grossen Firmen, der Geschichte des Finanzplatzes, der Binnenwirtschaft, dem Tourismus und der Landwirtschaft widmen. Der dritte Teil würdigt die regional unterschiedliche Wohlstandsverteilung mit Blick auf Konsum, Umwelt, Raum und Verkehr, während der konzisere vierte Teil aus der korporativen Verflechtung der Eliten und aus der Gewerkschaftsgeschichte eine spezifisch «Schweizerische Variante des Kapitalismus» konstruiert. Teil fünf bringt dann anhand der Währungspolitik und anhand des Verhältnisses der Schweiz zu den internationalen Organisationen noch einmal «Wirtschaft und Politik» zusammen.

Diese Gliederung wirkt etwas zufällig. Man darf dieses Buch nicht als eine Gesamtdarstellung lesen. Es fehlt der klare Theoriebezug, aus dem erst eine kohärente Argumentation hätte entfaltet werden können. Was «Wirtschaft» ist, bleibt unbestimmt, so dass irgendwie alles mit «Wirtschaft» zu tun hat. Die Stärke des Bandes liegt vielmehr in der teilweise sehr hohen Qualität der 13 einzelnen Beiträge. Sie umfassen jeweils zwischen 50 und 120 Druckseiten. Hervorragend ist die Zusammenfassung der Wirtschaftsentwicklung zwischen ca. 1870 und 1914 von Béatrice Veyrassat, die den historischen Ausgangspunkt für die folgenden Beiträge skizziert. Von diesen haben einige den Charakter von eigenständigen Monographien und resümieren die Ergebnisse von neuesten Forschungsprojekten. Das gilt für die Beiträge von Margrit Müller, Manuel Hiestand und Ulrich Woitek zum Konjunkturverlauf, für jenen von Thomas David und André Mach, die unter dem Stichwort der «Corporate Governance» ihre Forschungen zum Wandel der Schweizer Wirtschaftselite zusammenfassen, und für Tobias Straumanns und Patrick Halbeisens Ausführungen zur Währungspolitik seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Bernard Degen hat seine langjährigen Untersuchungen zum «collective bargaining» ebenso schlüssig formuliert wie Sebastien Guex, Malik Mazbouri und Rodrigo Lopez ihre Erkenntnisse zur Geschichte des Finanzplatzes. Andere Beiträge, wie jener von Jakob Tanner und David Gugerli zur technischen Innovation, von Brigitte Studer zur sozialen Sicherheit, von Ueli Häfeli zu «Umwelt, Verkehr und Raum», von Luigi Lorenzetti zur Demographie, von Thomas Gees zu den Internationalen Organisationen, von Laurent Tissot zum Tourismus, von Peter Moser zur Landwirtschaft, oder von Jakob Tanner und Brigitte Studer zum Konsum lesen sich als kluge Essays. Weitere solche Beiträge wären denkbar gewesen, etwa zur Unternehmensgeschichte der vielen kleinen und mittelgrossen Betriebe, welche die Binnenwirtschaft ausmachen, oder zur Geistesgeschichte des Wirtschaftsliberalismus.

Das anzuzeigende Buch ersetzt die aus der Zeit um 1980 stammenden Synthesen von Jean-François Bergier und Hans Jörg Siegenthaler und überbietet diese von der Materialfülle her bei weitem. Tatsächlich hat es eine Gesamtdarstellung der Wirtschaftsgeschichte der Schweiz für das 20. Jahrhundert, wie sie nun dank einer Initiative der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschaftsund Sozialgeschichte vorliegt, noch nie gegeben. Und es ist keineswegs sicher, ob unter dem Dach der wirtschaftsgeschichtlichen Subdisziplin jemals wieder so viele Autorinnen und Autoren bereit sind, aus ihrer – teilweise laufenden – akademischen Forschungstätigkeit heraus Beiträge zu verfassen und diese dann als ein Gemeinschaftswerk zu publizieren. Das Buch dokumentiert die «Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» und belegt zugleich, dass die Frage nach der wirtschaftlichen Dimension des historischen Wandels keine schlüssige Einheit der geschichtswissenschaftlichen Forschung mehr darstellt. Damit regt es zu vielen weiteren Untersuchungen an.

Zitierweise:
Daniel Speich Chassé: Rezension zu: Patrick Halbeisen, Margrit Müller und Béatrice Veyrassat (Hg.): Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. Basel, Schwabe, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 172-174.